www.albrecht-reuss.de | Stand: 23.04.2017 | Impressum

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Geschlossenheit

Dann war Wahl in Wappenstadt. Ich erfuhr aus dem Wahlprospekt der Freien Unabhängigen, dass ich trotz allem noch eine Frau hatte. Und dass sich eben diese um ein Stadtratsmandat bewarb.
»Herr Dr. Hausberger hat mich gefragt«, erklärte mir Frauke am Küchentisch, »warum hätte ich nein sagen sollen?«
Mir fielen tausend Gründe ein.
»Er sagte, ich sei sehr verlässlich, und verlässliche Leute würden in diesen schweren Zeiten mehr denn je benötigt.«
Aha, schwere Zeiten.
»Und immerhin würde ich stets pünktlich zu Einladungen erscheinen, während mein Mann –«
Sie ließ den Satz glücklicherweise unvollendet, doch auch so wurde mir schmerzhaft klar, dass mein letztes Silvester unter Erde nicht nur bei mir Spuren hinterlassen hatte.
»Und für was möchtest du dich gerne einsetzen?« versuchte ich durch ernstes Interesse das ein oder andere wieder gut zu machen.
»Für Geschlossenheit. Herr Dr. Hausberger sagt, Geschlossenheit sei das allerwichtigste bei einer Partei. Der Wähler wolle schließlich wissen, woran er sei.«
»Und habt ihr auch so was wie Inhalte?«
»Du solltest mal deine Tochter wecken. Sie muss zur Schule.«
Also musste ich mir die Inhalte der Freien Unabhängigen auf andere Weise erarbeiten. Schließlich wollte ich ja wissen, ob ich meine liebe Frau wählen konnte. Bei meinem nächsten Gang durch die Stadt achtete ich genau auf die überall verteilten Wahlplakate. Die Freien Unabhängigen warben auf zartem Zitronengelb unmissverständlich für Ihre Ziele: »Geschlossenheit. Nur mit uns!« Absolut gegenläufig hierzu die Plakate der Unabhängigen Freien. Diese waren auf zartem Zitronengelb gedruckt und enthielten die Kampfansage: »Nur mit uns: Geschlossenheit!«
Mindestens eine der beiden Parteien musste also lügen. Vielleicht auch beide. Oder lag das Problem einfach nur darin, dass ganz Wappenstadt nur einen einzigen Texter, einen einzigen Grafiker, einen einzigen Drucker und einen einzigen Papierlieferanten hatte, der nur eine einzige Farbe in großen Mengen anbieten konnte?
Diese Theorie entkräftete ich durch einen einfachen Blick ins Telefonbuch. Warum also weigerten sich die beiden aussichtsreichsten Parteien beharrlich, irgendwelche Inhalte anzunehmen? Ich studierte von da an allmorgendlich das Seininger Tagblatt und versuchte mehr herauszufinden. An Berichterstattung zur bevorstehenden Wahl mangelte es wahrlich nicht. Herr Dr. Hausberger ließ sich folgendermaßen zitieren: »Wir haben extra vor der Wahl den überfälligen Bau der Umgehungsstraße beschlossen, und zwar einstimmig, um unsere Geschlossenheit zu zeigen. Mein Dank gilt dabei den Kollegen aus Seiningen und Deiningen, die gewisse Mehrbelastungen für Ihre Teilorte befürchten, sich aber aus Gründen der Geschlossenheit der Mehrheit aus Meiningen angeschlossen haben. Der Wähler kann also unserem geraden Kurs voll vertrauen!«
Erstaunlich, erstaunlich, dachte ich bei mir, wie sich die sonst so zerstrittenen Ortsteile kurz vor einer Wahl plötzlich solidarisieren, nur weil es kein höheres Gut gibt als Geschlossenheit. Und dabei hätten die Seininger und Deininger die Meininger ja locker überstimmen können, wenn sie sich zusammengetan hätten. Wie dem auch sei, der Wahlkampf bescherte uns also ein neues Stückchen Straße. Immerhin der Hauch eines Inhaltes, resümierte ich, auch wenn mir der Inhalt nicht gefiel.
Gespannt las ich, welche Inhalte Frau Dr. Berger-Haus von den Unabhängigen Freien dem entgegenzusetzen hatte: »Ich lege Wert auf die Feststellung, dass unsere Fraktion der Umgehungsstraße sehr viel geschlossener zugestimmt hat, als dies beim politischen Gegner jemals der Fall hätte sein können. Herr Stadtrat Schuster von den Freien Unabhängigen litt am Tage der Abstimmung nachweislich an einem Schnupfen. Wir haben zur Beweissicherung den Inhalt der Papierkörbe des Ratssaales konserviert. Das bedeutet, Herr Kollege Schuster stand kurz davor, an der Abstimmung nicht teilgenommen haben zu können. Und das nennen die Damen und Herren von den Freien Unabhängigen Geschlossenheit! Da kann ich ja nur drüber lachen.«
Der Kommentator schlug unter der Überschrift »Vorsicht vor dem Zerfall« in die gleiche Kerbe und warnte: »Eine Partei ohne Geschlossenheit wäre das Ende unserer Demokratie. Dann sagt ja keiner mehr, wo’s lang geht!«
Gut, man könnte ja einfach drüber abstimmen, wo’s lang geht, dachte ich etwas primitiv, denn offensichtlich hatte ich Demokratie noch nicht verstanden. Ich dachte noch immer, sie hätte ein klein wenig zu tun mit so was wie Meinungsvielfalt.
Am anderen Morgen bekam ich weitere Nachhilfe. Das Seininger Tagblatt veröffentlichte eine Umfrage mit dem Titel: »Welcher Partei trauen Sie mehr Kompetenz zu beim Thema Geschlossenheit?« Anderntags ein weiterer Kommentar: »Diese Wahl wird sich an der Frage der Geschlossenheit entscheiden.« Und je näher der Wahltag rückte: »Kopf-an-Kopf-Rennen möglich. Parteien beschwören Geschlossenheit.«
Zwei Tage vor der Wahl rutschte dem Kandidaten Schuster bei einer Veranstaltung das Wort Solidarität heraus. Die Parteispitze entschied, dass die Gefahr bestehe, damit in die linke Ecke gesteckt zu werden, und zog als Zeichen der Geschlossenheit den Kandidaten Schuster kurzerhand zurück.
Am Wahltag erreichte die Geschlossenheit ihren Höhepunkt, als sämtliche Parteimitglieder beider großen Parteien geschlossen zur Wahlurne schritten. Das Gedränge an der Urne erinnerte an Wahlszenen aus Afrika in den Sekunden vor der Schließung der Wahllokale.
Aus Gründen der Geschlossenheit zwang mich meine Frau, an dem Gedränge teilzuhaben. Ich konnte mein Leben nur knapp retten, indem ich mich für sieben Stunden in der Wahlkabine verbarrikadierte und zuwartete, bis das Spektakel vorüber war. Ich brauchte diese Zeit, und zwar zum Nachdenken. Zu gerne hätte ich diejenige Partei gewählt, die meinen Ideen von Erde näher stand. Ich hätte keine Mühen gescheut, die Wahlprogramme beider Parteien in einer Synopse gegenüberzustellen und Punkt für Punkt mit meinen Grundsätzen zu vergleichen, die ich auf Erde – gewissermaßen probehalber – verwirklichen wollte. Die Tabelle lag schon vorbereitet auf meiner Modellbahnanlage, doch ich hatte das Ausfüllen eingestellt, nachdem die erste Zeile mit »Geschlossenheit – auch Geschlossenheit« ausgefüllt war und ich keine weiteren Inhalte finden konnte.
Wo der Verstand nicht mehr weiter kommt, siegt die Liebe. Ich wählte die Partei meiner Frau. Ein Ausdruck familiärer Geschlossenheit.